Der Wunderbrunnen
Aus jener Zeit, als es noch richtige Wunder gab und die ärztliche Kunst nicht von der Krankenkasse bezahlt wurde, stammt die Sage vom „Wunderbrunnen in der Hinteren Gasse“.
Die Geschichte handelt von einem Heidenheimer Pfarrer, der allzu früh verstarb und seiner Frau nichts als eine große, neunköpfige Kinderschar hinterließ. Die Witwe hatte es nicht leicht, die vielen Kinder statt zu bekommen, obwohl sie gelegentlich eine Spende von der Gemeinde erhielt und die größeren Sprößlinge immer wieder bei Nachbarn zum Mittagessen eingeladen wurden.
Eine Lohnarbeit konnte die arme Frau natürlich nicht annehmen. Sie hatte alle Hände voll zu tun, um die Kinder zu versorgen, zu waschen, zu nähen und zu flicken. Aber sie hielt sich tapfer und bewältigte ihr Tagewerk mit Gottvertrauen und Frömmigkeit. Sie war überzeugt davon, dass der Herrgott, der ihr so viele Kinder geschenkt hatte, auch dafür sorgen würde, dass sie in der Familie groß werden.
Eines Nachts hatte sie einen Traum. Sie sollte, so erinnerte sie sich am nächsten Morgen, zum nächsten Brunnen in der Hinteren Gasse gehen, der zwischen den Häusern Kicherer und Schlosser Feuerbacher liegt, und sich auf die Heilkraft des Wassers verlassen. Niemand habe bisher davon erfahren. Das Wasser könne kranke Augen heilen. Sie dürfe aber niemand etwas davon erzählen. Nur sie allein sei befugt, das Brunnenwasser in Fläschchen abzufüllen und als sicheres Heilmittel zu verkaufen.
Als Zeichen, dass der Traum eine wahre Eingebung sei, werde schon am Morgen eine Botenfrau mit entzündeten Augen zu ihr kommen und ihr Leid klagen. Zunächst dachte die Frau, dass es sich nur um einen Traum handelte, den man nicht ernst nehmen könne. Doch als dann wenig später tatsächlich die Botenfrau vor ihrer Tür stand und berichtete, sie könne wegen ihrer kranken Augen kaum noch lesen, da ahnte die Witwe, immer noch von Zweifeln beseelt, dass der Traum vielleicht doch einen wahren Kern hat. Also machte sie sich auf den Weg zum Brunnen und füllte einige zuvor sauber ausgewaschene Fläschchen mit dem „Heilwasser“. Eines davon überreichte sie der Botenfrau mit dem Hinweis, einige Tropfen davon in ihre Augen zu träufeln.
Es dauerte nicht lange, da stand die Botenfrau wieder vor der Tür. Ihre Augen waren gesund geworden und sie bedankte sich herzlich bei der Witwe. Für die Kinder der großen Familie hatte sie ein Dankespaket mitgebracht.
Die Kunde von der „Heilerin“ sprach sich schnell herum im Heidenheimer Land und sie bekam solchen Zulauf und verdiente so viel Geld, dass sie sich um ihre neun Kinder keine Sorgen mehr machen musste.
Quelle: Norbert Pfisterer und Klaus-Peter Preußger, 1. Auflage Oktober 2012, Von Raubrittern und edlen Fräulein, Sagenhaftes aus dem Heidenheimer Land, Heidenheim an der Brenz, Verlag: cmc